FOTO: KAPUZINER/MARIUS JACOBY
BR. Michael Masseo Maldacker
wurde 1974 in Rheinfelden im Erzbistum Freiburg geboren. Br. Michael ist seit 2019 Kapuziner und studiert zurzeit in Münster katholische Theologie.
„Der Glaube ist Voraussetzung auf dem Weg zur Wahrheit“
Warum ist die Wahrheit der Täuschung vorzuziehen? Wie passen Glaube und Wahrheit zusammen? Ein Interview mit dem Kapuziner Michael Maldacker, der für sich erst spät in seinem Leben eine neue Wahrheit entdeckte.
Br. Michael, schon immer beschäftigen sich Menschen mit Wahrheit und Lüge. Warum eigentlich?
Kein Mensch möchte angelogen werden. So einfach ist das.
Jeder hat seine eigene Definition von Lüge.
So ist es. Wenn ich die Wahrheit einfach nur verschweige, dann sieht das mancher nicht als Lüge an. Deswegen ist der Begriff ‚Täuschung‘ passender. Der große Kirchenlehrer Augustinus hat dazu gesagt: „Die Lüge ist offensichtlich eine unwahre, mit dem Willen zur Täuschung vorgebrachte Aussage.“
Ist die Wahrheit denn wirklich immer die bessere Wahl?
Natürlich gibt es Situationen, in denen man sein Gegenüber durch eine Täuschung schonen möchte. Aber seien wir ehrlich: Es geht in den meisten Fällen vor allem um die eigene Person. Um Bequemlichkeit, um Angst. Deshalb lügt man. Aber auch wenn es schwerfällt: Die Wahrheit ist immer die bessere Wahl, davon bin ich überzeugt. Das ist mir als Christ sehr wichtig. Ich will mein Gegenüber nicht täuschen. Außerdem macht die Beschönigung der Lüge die Unwahrheit auf lange Sicht salonfähig und zersetzt den Wert der Wahrheit.
Auch wenn man jemanden vor einer sehr schlechten Nachricht schonen will?
Da wird es wirklich sehr schwierig. Gerade bei Kindern möchte ich nicht beurteilen, ob die Täuschung in manchen Fällen die bessere Wahl als die Wahrheit ist. In meinem Umfeld habe ich aber auch erlebt, dass die Wahrheit dennoch der richtige Weg sein kann. Ganz konkret: Vor einigen Jahren ist meine Schwägerin im Alter von 49 Jahren gestorben. Als sie und mein Bruder die Nachricht bekamen, dass sie nur noch wenige Monate zu leben hat, haben die beiden darüber mit dem damals fünfjährigen Sohn offen gesprochen. Sie wollten bei der Wahrheit bleiben und haben ihn auf den Tod der Mutter vorbereitet. Er hat gute letzte Monate mit seiner Mutter verbracht. Auch das Verschweigen der Wahrheit, um ein Kind zu schonen, will in jedem Einzelfall gut überlegt sein.
Die Wahrheit spielt in Ihrem Leben, auch vor Ihrer Zeit als Kapuziner, eine wichtige Rolle. Sie sind ausgebildeter Journalist.
Das ist richtig. Ich habe mein Leben lang als Journalist gearbeitet. Vor allem bei Tageszeitungen, beim Rundfunk und bei einer Nachrichtenagentur.
Warum sind Sie Journalist geworden?
Mit 16 habe ich ganz klassisch in der Lokalredaktion angefangen. Da war die Wahrheitssuche nicht die Hauptmotivation, sondern die Eitelkeit. Ich wollte schreiben und ich wollte gedruckt werden. Doch ein ethisch sauberer Umgang mit der Wahrheit war mir auch früher schon wichtig.
Die Wahrheit ist immer die bessere Wahl, davon bin ich überzeugt. Das ist mir als Christ sehr wichtig. Ich will mein Gegenüber nicht täuschen.
Dürfen Journalist*innen eine Haltung haben?
Es geht nicht ohne. Ohne Haltung fehlt die Motivation, die wichtig ist für guten Journalismus. Das darf aber natürlich nicht zu einer Voreingenommenheit führen, zu Ergebnissen von Recherchen, die schon vorher feststehen.
Wahrheit im Journalismus ist ein großes Thema dieser Tage. Vorwürfe von Fake News auf der einen, die Aufhebung der Grenzen von Bericht und Meinung auf der anderen Seite. Was ist Ihr Blick auf diese Diskussion?
Natürlich gibt es auch Journalist*innen, die nicht korrekt arbeiten oder sich von Aussagen blenden oder verführen lassen, um an eine konstruierte ‚Wahrheit‘ zu gelangen. Aber es gibt noch immer zahlreiche Journalist*innen, die eine hervorragende und gewissenhafte Arbeit machen. Die heute schon inflationäre öffentliche Medienschelte halte ich für unangemessen.
Was ist, wenn Sie in einer Diskussion mit Fake News konfrontiert werden?
Fake News sind bewusste Lüge und Täuschung. Das ist ekelhaft und unverantwortlich. Da muss man ganz genau auf die Herkunft der angeblichen Wahrheit achten, auf die Quelle oder den Urheber einer Äußerung. Fake News brechen bei einer kritischen Prüfung durch jeden von uns meist ganz schnell in sich zusammen. Ich beobachte aber, dass viele Menschen nur noch das glauben möchten, was sie in ihrem festen Weltbild bestätigt. Daraus entstehen dann Verschwörungstheorien, die die Gesellschaft weiter spalten. Ich bin heilfroh, dass in unseren Kapuzinerklöstern nur sehr wenige auf derart simple ‚Wahrheiten‘ hereinfallen.
Sie sind erst spät in den Kapuzinerorden eingetreten. Wie kam das?
Ich habe meine geistliche Berufung immer überhören wollen, das weiß ich inzwischen. Erst rund um meinen 40. Geburtstag wurde mir klar: Ich muss Gottes Ruf jetzt folgen – oder nie mehr.
Es gab in Ihrem Leben ein ‚Blitzschlagerlebnis‘. Dort haben Sie eine neue Wahrheit für Ihr Leben entdeckt.
Ja, das ist ganz gut ausgedrückt. Kirche hat mich weite Strecken meines Lebens nicht interessiert. Ich bin zwar katholisch sozialisiert und habe sogar im Alter von neun Jahren zum ersten Mal eine Berufung zum Priester gespürt. Aber ich habe diesen Gedanken immer wieder verdrängt. Nach und nach entfernte ich mich von der Kirche und auch vom Glauben. Ich war über viele Jahre überzeugt, dass Gott nicht existieren könne. Angesichts von Leid und Ungerechtigkeit in der Welt. Und dann kam dieser Heiligabend 2015, der alles veränderte. Ich verbrachte den Nachmittag und Abend für eine große Reportage bei einem Pfarrer. Ich ging als Journalist ins Pfarrhaus hinein und kam als Priesterkandidat wieder heraus.
Christus ist die Richtschnur für mein Leben. Er steht als Person für die Wahrheit, er fügt zusammen, was Menschen nicht möglich ist.
Was ist an diesem Abend passiert?
Die Vorgeschichte war, dass der Pfarrer erstmal sehr skeptisch war, als ich anfragte. Schließlich ist das ja ein ereignisreicher Abend, da hat man andere Pläne, als einen nervigen Journalisten an der Seite zu haben. Am Telefon habe ich dann einen Satz gesagt, von dem ich bis heute nicht weiß, wo dieser herkam. Nach seiner barschen Ablehnung sagte ich zu dem Mann: „Und was ist, wenn wir gemeinsam beten?“ Die Antwort war: „Dann machen wir es!“ Und so nahm der Abend seinen Lauf. Mit Christmette, gemeinsamem Essen, Gebet und Gesprächen. Am Ende hatte ich meine Recherche gemacht, die Reportage ist erschienen. Aber das alles war nicht mehr wichtig. Sieben Tagen später habe ich den Pfarrer angerufen und ihm gesagt: „Ich will Priester werden.“
Klingt unglaublich.
Ist es auch, absolut. Ich habe in diesen Stunden gewissermaßen eine andere Wahrheit für mich gefunden. Meinen Anruf bei Pfarrer Schuler werde ich nie vergessen.
Wie war das genau?
Das war für mich ein großer Schritt. Ich rief ihn an und mein Atem stockte schon, als er den Hörer abhob. Ich sagte nicht einmal „Hallo“, glaube ich. Dann nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und sagte: „Herr Pfarrer, ich möchte Priester werden.“ Es folgten lange Momente der Stille. Nun fürchtete ich eine Abfuhr, eine Zurechtweisung, eine Ermahnung. Ich dachte, mein Vorstoß schockt den Pfarrer. Falsch gedacht. Nach dieser Atempause sagte August Schuler ganz sanftmütig und zu meiner großen Überraschung: „Das habe ich schon gespürt, als ich Ihnen an Heiligabend die Pfarrhaustür öffnete.“ Ich hätte vor Freude weinen können. Und seit diesen Stunden gibt es für mich diese neue Wahrheit.
Kern dieser neuen Wahrheit ist Jesus. In der Bibel gibt es zum Thema Wahrheit einen vielzitierten Satz: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben.“ Was bedeutet Ihnen diese Bibelstelle?
Dieser wunderbare Satz stammt aus dem Johannesevangelium. Christus ist die Richtschnur für mein Leben. Er steht als Person für die Wahrheit, er fügt zusammen, was Menschen nicht möglich ist.
Glaube und Wahrheit passen für viele nicht zusammen, sind gar ein Widerspruch. Warum geht es Ihnen nicht so?
Die umfassende Wahrheit kann nur von jemandem kommen, der auch einen umfassenden Blick auf die Dinge hat. Ich bin das nicht. Und auch kein anderer Mensch. Deswegen kann das für mich nur Gott sein. Insofern ist der Glaube für mich die Voraussetzung auf dem Weg zur Wahrheit.
Zweifeln Sie manchmal an dieser Wahrheit?
Natürlich habe ich seit meiner Umkehr hin zu Gott vor ungefähr sieben Jahren auch Zweifel an Gottes Existenz gehabt. Aber tatsächlich sehr selten. Mein Glaube war letztlich immer stärker als die Zweifel. Aber selbstverständlich gibt es immer wieder Fragen, auf die ich keine Antwort bekomme.
Braucht diese Wahrheit einen Beweis?
Diese ganze Diskussion um Gottesbeweise, die ich ja auch im Theologiestudium verfolge, die finde ich kleingläubig und mitunter sogar haarsträubend, das muss ich wirklich sagen. Was soll mir denn ein Gottesbeweis bringen? Selbst wenn es die allerklügste Argumentation gäbe: Ich brauche das nicht. Glaube ist so viel größer als ein offizieller Beweis. Dass Gott existiert und es gut mit uns meint, kann ich als Glaubender doch täglich erfahren.
Br. Michael, vielen Dank für das Gespräch!