Interview
Juan Bauer

FOTO: KAPU­ZI­NER

BR. JUAN BAUER

lebt und arbei­tet seit 1974 in Chi­le, zur­zeit in Pucón in der Región de la Araucanía.

3. Novem­ber 2020

Situation in Chile: „Nichts ist mehr, wie es war“

„Kir­chen in Chi­le bren­nen“. So titel­ten vor eini­gen Tagen zahl­rei­che Zei­tun­gen. Der Kapu­zi­ner Juan Bau­er lebt seit 1974 in Chi­le. Im Inter­view berich­tet der Pries­ter über die aktu­el­le Lage nach dem Ver­fas­sungs­re­fe­ren­dum im Okto­ber, die Coro­na-Pan­de­mie und die sozia­le Spal­tung im Land.

Bru­der Juan, wie ist die Situa­ti­on in Chile?

Die Unru­hen, die so mas­siv im Okto­ber des letz­ten Jah­res aus­ge­bro­chen sind, haben eine lan­ge Geschich­te. Da kommt sehr viel zusam­men: Sal­va­dor Allen­de und das sozia­lis­ti­sche Expe­ri­ment, die vie­le Jah­re andau­ern­de, bru­ta­le Mili­tär­re­gie­rung unter Gene­ral Augus­to Pino­chet und natür­lich auch die Ent­wick­lun­gen der letz­ten 30 Jah­re der Re-Demo­kra­ti­sie­rung des Landes.

Chi­le ist tief gespalten.

Das Land hat in den letz­ten Jah­ren einen wirt­schaft­li­chen Auf­schwung erlebt wie nie zuvor in sei­ner Geschich­te. Der Mehr­heit der Chi­le­nen geht es gut wie noch nie. Aber es ist in der Tat so: Das Land ist gespal­ten zwi­schen eini­gen weni­gen sehr rei­chen Per­so­nen und einer Mehr­heit, die um ihre Exis­tenz hart rin­gen muss. Es gibt eine star­ke Unzu­frie­den­heit, teils auch Wut, die jetzt durch­bricht. Die Chi­le­nen wol­len die gewal­ti­gen Unter­schie­de in der Gesell­schaft nicht mehr hinnehmen.

Kön­nen Sie ein Bei­spiel nennen?

Die Stu­den­ten etwa pro­tes­tie­ren schon seit Jah­ren gegen das Erzie­hungs­we­sen, durch das die Ungleich­heit zemen­tiert wird. Auf der einen Sei­te ste­hen Jugend­li­che, die von vorn­her­ein unter den bes­ten Bedin­gun­gen ins Leben star­ten. Sie haben alle Mög­lich­kei­ten, die bes­ten Schu­len und Uni­ver­si­tä­ten zu besu­chen und anschlie­ßend eine siche­re, erfolg­rei­che Zukunft im Berufs­le­ben vor sich. Auf der ande­ren Sei­te steht die gro­ße Mehr­heit der Jugend­li­chen, die zwar auch stu­die­ren kön­nen, aber unter ande­ren und begrenz­ten Bedin­gun­gen star­ten. Sie erle­ben den rie­si­gen sozia­len Unter­schied zu ande­ren Jugend­li­chen stän­dig und ganz kon­kret. Sie kom­men aus ande­ren Stadt­vier­teln, besu­chen ande­re Schu­len, ande­re Uni­ver­si­tä­ten – und haben in ihrer Frei­zeit ande­re Mög­lich­kei­ten als ihre Alters­ge­nos­sen. Das wol­len sie nicht mehr hin­neh­men, denn sie wis­sen auch, dass Chi­le eigent­lich ein rei­ches Land ist.

Die Lebens­hal­tungs­kos­ten sind sehr hoch.

Ja, das höre ich auch immer wie­der, wenn mich Ver­wand­te aus Deutsch­land besu­chen. Sie stel­len fest, dass die Lebens­mit­tel hier zum Teil teu­rer sind als in Deutsch­land. Und es gibt noch vie­le ande­re Berei­che, die für Unmut sor­gen: So sind etwa die Ren­ten sehr nied­rig. Davon zu leben ist kaum mög­lich. Leu­te, die ein gan­zes Leben gear­bei­tet haben, ver­ar­men in Alter. Vie­les ist pri­va­ti­siert: zum Bei­spiel die Strom- oder Was­ser­ver­sor­gung. Es gibt viel­fäl­ti­ge Pro­ble­me, die die Ungleich­heit zei­gen und verstärken.

Die Pro­tes­te, die wir hier in Euro­pa wahr­neh­men, gehen auch mit Gewalt ein­her. Ist das die Mehrheit?

Die gro­ße Mehr­zahl will fried­lich pro­tes­tie­ren. Es gibt vie­le Grup­pen, die tan­zen, machen Musik und drü­cken ihre Anlie­gen fried­lich aus. Aber natür­lich gibt es auch immer gewalt­be­rei­te Grup­pen, die gewalt­sam gegen die Poli­zei vor­ge­hen, die ihrer­seits auch gewalt­tä­tig reagiert. Und dann gibt es Grup­pen, die es auf simp­len Van­da­lis­mus, Zer­stö­rung und Raub abge­se­hen haben. Der Wider­stand gegen die Poli­zei hat im Land durch­aus Geschich­te: Schon in der Zeit Pino­chets gab es den Spruch „Wir gehen uns mit den Poli­zis­ten anle­gen“. Auf der ande­ren Sei­te ist die Poli­zei auf solch gro­ße Aus­schrei­tun­gen gar nicht vor­be­rei­tet und auch nicht rich­tig ausgebildet.

Wel­che Rol­le spielt die Kir­che in die­sem Konflikt?

Unse­re Bischö­fe sind ziem­lich stumm. Zwar gibt es Erklä­run­gen des Komi­tees der Bischofs­kon­fe­renz und der Ordens­kon­fe­renz, die aber nicht in den öffent­li­chen Medi­en erschei­nen. Das Fern­se­hen inter­es­siert sich nicht dafür, wenn Bischö­fe zum Frie­den oder zur Gewalt­lo­sig­keit auf­ru­fen. Hin­ge­gen ist für Skan­da­le in der Kir­che immer viel Platz auf allen Kanä­len. Dass bei­spiels­wei­se ein Kapu­zi­ner von uns, der Erz­bi­schof von Sant­ia­go, zum Kar­di­nal ernannt wur­de, war nur eine kur­ze Mit­tei­lung wert. Die Kir­che pro­du­ziert zur­zeit kei­ne posi­ti­ven Schlagzeilen.

Eine der Kir­chen, die in Flam­men auf­ge­gan­gen ist, wur­de von der Poli­zei, die wegen ihres bru­ta­len Vor­ge­hens in der Kri­tik steht, für Zere­mo­nien genutzt.

Ja, das kann ich bestä­ti­gen. Eine der Kir­chen, die bei den Pro­tes­ten ange­zün­det wur­de, ist die offi­zi­el­le Kir­che der Poli­zei. Die Poli­zei und auch das Mili­tär haben eige­ne Pries­ter, die unter dem Mili­tär­bi­schof ste­hen. Das ist ein Erbe der Zeit Pino­chets, als die Poli­zei zum Mili­tär gehör­te. Aber die­se zwei Kir­chen sind nicht die ein­zi­gen, vor eini­gen Jah­ren wur­den zum Bei­spiel Kapel­len hier im Süden ver­brannt, in der Diö­ze­se von Vil­lar­ri­ca. Aber das waren ande­re radi­ka­le Gruppen.

Haben oder hat­ten Sie manch­mal Angst oder füh­len sich bedroht?

Ich war vie­le Jah­re Pfar­rer in Chi­le, in meh­re­ren Städ­ten, in denen wir Kapu­zi­ner gear­bei­tet haben. Der Herr­gott meint es gut mit mir, ich füh­le mich wohl und bin gesund. Ich durf­te schö­ne, aus­ge­füll­te Jah­re leben. Es ist mir immer gut gegan­gen und ich habe nie Angst vor jeman­den haben müssen.

Wie beur­tei­len Sie die Volks­ab­stim­mung im Okto­ber 2020 über die neue Ver­fas­sung? Ist das eine gute Per­spek­ti­ve für Chile?

Das Ple­bis­zit von Ende Okto­ber wur­de mit Span­nung erwar­tet: Soll eine ganz neue Ver­fas­sung aus­ge­ar­bei­tet wer­den oder die aus der Zeit Pino­chets über­ar­bei­tet wer­den? Und die zwei­te Fra­ge: Soll die­se Ver­fas­sung von Bür­gern aus­ge­ar­bei­tet wer­den, die vom Volk gewählt wer­den – oder je zur Hälf­te von gewähl­ten Bür­gern und Par­la­men­ta­ri­ern? Die Abstim­mung ver­lief sehr ruhig, und trotz Coro­na konn­ten alle abstim­men. Das Ergeb­nis lau­tet: Es soll eine ganz neue Ver­fas­sung aus­ge­ar­bei­tet wer­den, durch demo­kra­tisch gewähl­te Per­so­nen. Zur Hälf­te Män­ner und Frau­en. Aus mei­ner Sicht ist es nun wich­tig, wer die­se Leu­te sein wer­den. Ich per­sön­lich ver­traue dar­auf, dass die Leu­te ver­ant­wort­lich abstim­men wer­den. Und es gibt in Chi­le genug ver­ant­wor­tungs­be­wuss­te Leu­te, die eine gute Ver­fas­sung aus­ar­bei­ten kön­nen, die dem Land wie­der Frie­den und einen Weg in eine gerech­te­re Gesell­schaft wei­sen kann.

Zum Abschluss: Wie ist eigent­lich die Coro­na-Lage bei Ihnen vor Ort?

Die Pan­de­mie hat – wie über­all auf der Welt – auch in Chi­le dra­ma­ti­sche Fol­gen. Nichts ist mehr, wie es war. Momen­tan stei­gen die Anste­ckungs­fäl­le in ver­schie­de­nen Regio­nen wie­der stark an. Unse­re Regi­on, Arau­canía, war lan­ge Zeit nach Sant­ia­go die Regi­on mit den meis­ten Infektionen.

Fin­den Got­tes­diens­te statt?

In Pucón, wo ich lebe, haben wir zur­zeit kei­ne Got­tes­diens­te mit Besu­chern. Die Mes­se am Sonn­tag über Face­book und ande­re Medi­en wird in über­ra­schend vie­len Häu­sern als Haus­got­tes­dienst mit­ge­fei­ert. An der Kate­che­se für Erst­kom­mu­ni­on und Fir­mung nimmt eine gute Anzahl von Kin­dern und Jugend­li­chen teil. Ins­ge­samt muss man sagen: Die Pan­de­mie hat eine gro­ße Hilfs­be­reit­schaft geweckt. Es gibt ver­schie­de­ne Grup­pen reli­giö­ser und nicht-reli­giö­ser Art, die sich abstim­men in der Hil­fe für arme Fami­li­en, Allei­ste­hen­de und älte­re Leu­te. Obwohl die Schu­len geschlos­sen sind, wird da, wo es geht, online unter­rich­tet. Auch das Schu­les­sen und das Mate­ri­al wird den Kin­dern nach Hau­se gebracht. Den­noch sind alle ner­vös, da unse­re Stadt vom Tou­ris­mus lebt. Zur­zeit ist alles wie aus­ge­stor­ben, kei­ne Restau­rants und kei­ne Geschäfte.

Bru­der Juan, ich dan­ke Ihnen für das Gespräch!

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