FOTO: Kapuziner/Lemrich
BR. ANDREAS WALTERMANN
lebt seit vielen Jahren in Albanien. Der geborene Münsteraner (Jahrgang 1957) ist seit 1978 Kapuziner und wurde 1985 zum Priester geweiht.
„Die Frage der Armut ist entscheidend für unser Leben als Kapuziner“
Was bedeutet das Gelübde der Armut, nach dem die Kapuziner leben wollen? Wie unterscheidet es sich vom existenziellen Elend, dem viele Menschen ausgesetzt sind? Antworten von Br. Andreas Waltermann, der in Nordalbanien in der ärmsten Region Europas lebt.
Br. Andreas, Sie leben in Albanien in Fushë Arrëz, in einer der ärmsten Gegenden Europas. Was fehlt den Menschen vor Ort?
Am meisten fehlt den Menschen eine Perspektive. Eine Perspektive, die sie zum Bleiben motiviert.
Was sind die Gründe für diese Perspektivlosigkeit?
Es gibt zahlreiche Gründe. Einer der wichtigsten ist das Fehlen industrieller Arbeitsplätze. Deshalb verlassen viele Menschen diese Gegend, denn Arbeit, die die Lebensgrundlage für eine Familie sichert, ist die Basis von allem. Wir Kapuziner versuchen mit unseren Möglichkeiten, die Armut zu lindern, etwa durch Hausbauprojekte, Dachreparaturen, Viehprojekte, Ausbildungshilfen für Schüler und Studenten oder Existenzhilfen.
Sie sind jetzt seit 15 Jahren hier im Norden Albaniens. Ist die Lage seither besser geworden, geht es voran?
In den Städten und Ballungsgebieten ist es mit Sicherheit besser geworden, auch was die Infrastruktur anbelangt. Hier bei uns in der Bergregion nehme ich das nicht wahr. Die Lage stagniert und manchmal verschlechtert sich die Infrastruktur auch. Das betrifft Wege und Wasserleitungen, Bewässerungskanäle, Elektrizität, Läden, Schulen und vieles mehr. Die Region schrumpft, es gab noch nie eine so große Exodus-Welle wie zurzeit.
Gott gibt mir Zuversicht und Halt. Das einfache Leben ist meine Antwort auf diese Erfahrung.
Verschärft der Ukraine-Krieg die Lage?
Die Preise haben sich immens erhöht. Das ist schlecht für die Bevölkerung und verunsichert die Leute. Und das betrifft auch ganz konkret die Hilfen durch uns Kapuziner, etwa bei den Bauprojekten. Hier sind die Preise um 50 Prozent gestiegen, was bedeutet, dass wir in Zukunft weniger Menschen helfen können, selbst wenn die gute Unterstützung aus Deutschland und Österreich stabil bleibt.
Sie sind Kapuziner und Priester. Wie hängen leibliches und seelisches Wohl zusammen?
Das ist fast immer sehr eng miteinander verbunden. Wenn es Leuten wirtschaftlich und existentiell schlecht geht, dann leidet auch die Seele. Armut ist ein Übel, eine Notsituation, die Menschen erleiden. Das macht auch etwas mit der Seele, mit dem spirituellen und dem gemeinschaftlichen Leben der Leute. Deswegen ist für uns Kapuziner hier vor Ort klar: Wir können nicht Pastoral betreiben ohne die soziale Lage ebenso mit in den Blick zu nehmen. Fromme Worte alleine erreichen die Leute nicht, es muss auch ganz konkrete Verbesserungen im Leben der Leute geben. Wir sind als Kirche oft der einzige Hoffnungsträger der Menschen, da sich der Staat aus dieser Region komplett zurückgezogen hat.
Wir haben über die Armut in Albanien gesprochen, die Sie vor Ort bekämpfen. Auf der anderen Seite haben Sie als Ordensmann „Armut“ als Gelübde geschworen. Ist das ein Widerspruch?
Für mich sind das zwei verschiedene Paar Schuhe. Armut, die aus einer Notlage erwächst und existenziell ist, das ist etwas völlig anderes als das, was wir Kapuziner mit unseren Gelübden zu leben versuchen. Diese Armut hier vor Ort ist ein Übel. Eine durch ein Gelübde freiwillig gewählte Armut ist eine andere Sache, die zunächst einmal mit Hingabe zu tun hat und mit einer freiwilligen Entscheidung. Ich entscheide mich, einfach zu leben. Ich entscheide mich dafür, dass ich nicht einem Immer-Mehr, Immer-Besser und Immer-Schneller nachlaufe. Mein Gelübde der Armut hat auch mit einer Erfahrung von Reichtum zu tun, nämlich einem Gott, der mich reicht macht und mich beschenkt. Gott gibt mir Zuversicht und Halt. Das einfache Leben ist meine Antwort auf diese Erfahrung.
Ich entscheide mich, einfach zu leben. Ich entscheide mich dafür, dass ich nicht einem Immer-Mehr, Immer-Besser und Immer-Schneller nachlaufe.
Leben die Kapuziner arm?
Ja, wir leben einfach. Dennoch haben wir alles, was wir benötigen für ein gutes Leben, wir sind nicht existenziell arm. Mit dieser kurzen Antwort auf Ihre Frage ist es aber nicht getan, denn die Frage ist wirklich wichtig. Wir müssen hier immer wieder dranbleiben, sie ist entscheidend für unser Leben als Kapuziner.
Sie wurde im Laufe der Geschichte der franziskanischen Orden immer wieder diskutiert.
Genauso ist es. Schon immer griffen nach einem Aufbruch Etablierungstendenzen um sich. Die Frage der Armut hat den Franziskanerorden geprägt und gespalten. Meine Meinung ist, dass wir uns als Kapuziner in Europa hier immer wieder neu auf den Weg machen müssen. Das ist nicht zuallererst eine Frage des Verzichtes, sondern der Lebenseinstellung. Wir müssen uns fragen: Haben wir eine Entscheidung getroffen für Menschen, die arm sind? Unsere Klöster dürfen keine gut situierten Burgen sein.
Warum wollen Sie als Kapuziner überhaupt arm sein und einfach leben?
Unser Ordensvater, der heilige Franziskus, wollte arm sein, weil er den Reichtum Gottes erfahren hat. Weil er in seinem Leben erlebt hat, dass materieller Reichtum und Geld nicht alles ist. Es war für ihn die Erfüllung, Gott zu finden. Das geht nur in Freiheit und Unabhängigkeit. Ein einfaches Leben für mich als Kapuziner ist auch die Voraussetzung dafür, solidarisch und auf Augenhöhe mit den Menschen unterwegs zu sein, die in prekären und existenziellen Notsituationen leben müssen.
Welche Bibelstelle ist Ihnen im Zusammenhang mit der Armut besonders wichtig?
Es gibt eine Bibelstelle aus dem Johannesevangelium (3,16), in der es heißt: „Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren geht, sondern ewiges Leben hat.“ Das ist für mich ein Schlüssel unseres Glaubens. Jesus kam arm in diese Welt, ein wichtiges Zeichen auch für unsere Arbeit hier in Albanien. Seine Armut ist natürlich viel größer als das, was wir versuchen zu leben, aber es ist ein leuchtendes Beispiel, dass so ein Leben gelingen kann. Als Notlage ist Armut kein Ideal, im Gegenteil. Aber als eine spirituelle Antwort auf die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus ist sie das.
Eine gerechte Ökonomie ist nicht allein die Frage wirtschaftlicher Strukturen und Ergebnisse, denn der Mensch ist ein ganzheitliches Wesen.
Papst Franziskus beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem Wirtschaftssystem. Er beschreibt den Kapitalismus als unerträglich, sagt, dass „diese Wirtschaft tötet“. Stimmt das, ist der Kapitalismus das Problem?
Ich glaube schon, dass der Kapitalismus in einer globalisierten Welt viele Opfer hinterlässt. Diese Opfer sind die Schwachen, die Marginalisierten, die keine Stimme oder keine Ressourcen haben. Die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander. Für mich sollte in dieser Debatte die Frage im Mittelpunkt stehen: Was ist uns wichtig, der Mensch oder die Gewinnmaximierung? Wir müssen den Menschen in den Fokus des Handelns rücken, das wäre eine Ökonomie, die am Evangelium ausgerichtet ist. Davon sind wir weit entfernt!
Sie leben in Albanien, einem Land, in dem viele Jahre kein Kapitalismus, sondern eine Art „Steinzeit-Kommunismus“ gelebt wurde.
Ja, deswegen muss ich schon auch hinzufügen: Diese Art des brutalen Kommunismus, die es in Albanien gegeben hat, hat diese Gegensätze auch nicht überbrückt, im Gegenteil. Sie hat den Menschen den Glauben und die Religiosität genommen. Eine gerechte Ökonomie ist nicht allein die Frage wirtschaftlicher Strukturen und Ergebnisse, denn der Mensch ist ein ganzheitliches Wesen. Zu ihm gehört sein Bedürfnis nach Religiosität und die Suche nach Antworten, nach einem Gott, der da ist, tröstet und die Menschen liebt.
Br. Andreas, vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Tobias Rauser