Interview

FOTO: Kapuziner/Lemrich

BR. ANDREAS WALTERMANN

lebt seit vie­len Jah­ren in Alba­ni­en. Der gebo­re­ne Müns­te­ra­ner (Jahr­gang 1957) ist seit 1978 Kapu­zi­ner und wur­de 1985 zum Pries­ter geweiht. 

11. Okto­ber 2022

„Die Frage der Armut ist entscheidend für unser Leben als Kapuziner“

Was bedeu­tet das Gelüb­de der Armut, nach dem die Kapu­zi­ner leben wol­len? Wie unter­schei­det es sich vom exis­ten­zi­el­len Elend, dem vie­le Men­schen aus­ge­setzt sind? Ant­wor­ten von Br. Andre­as Wal­ter­mann, der in Nord­al­ba­ni­en in der ärms­ten Regi­on Euro­pas lebt. 

Br. Andre­as, Sie leben in Alba­ni­en in Fus­hë Arrëz, in einer der ärms­ten Gegen­den Euro­pas. Was fehlt den Men­schen vor Ort? 

Am meis­ten fehlt den Men­schen eine Per­spek­ti­ve. Eine Per­spek­ti­ve, die sie zum Blei­ben motiviert.

Was sind die Grün­de für die­se Perspektivlosigkeit? 

Es gibt zahl­rei­che Grün­de. Einer der wich­tigs­ten ist das Feh­len indus­tri­el­ler Arbeits­plät­ze. Des­halb ver­las­sen vie­le Men­schen die­se Gegend, denn Arbeit, die die Lebens­grund­la­ge für eine Fami­lie sichert, ist die Basis von allem. Wir Kapu­zi­ner ver­su­chen mit unse­ren Mög­lich­kei­ten, die Armut zu lin­dern, etwa durch Haus­bau­pro­jek­te, Dach­re­pa­ra­tu­ren, Vieh­pro­jek­te, Aus­bil­dungs­hil­fen für Schü­ler und Stu­den­ten oder Existenzhilfen.

Sie sind jetzt seit 15 Jah­ren hier im Nor­den Alba­ni­ens. Ist die Lage seit­her bes­ser gewor­den, geht es voran?

In den Städ­ten und Bal­lungs­ge­bie­ten ist es mit Sicher­heit bes­ser gewor­den, auch was die Infra­struk­tur anbe­langt. Hier bei uns in der Berg­re­gi­on neh­me ich das nicht wahr. Die Lage sta­gniert und manch­mal ver­schlech­tert sich die Infra­struk­tur auch. Das betrifft Wege und Was­ser­lei­tun­gen, Bewäs­se­rungs­ka­nä­le, Elek­tri­zi­tät, Läden, Schu­len und vie­les mehr. Die Regi­on schrumpft, es gab noch nie eine so gro­ße Exodus-Wel­le wie zurzeit. 

Gott gibt mir Zuver­sicht und Halt. Das ein­fa­che Leben ist mei­ne Ant­wort auf die­se Erfahrung.

Ver­schärft der Ukrai­ne-Krieg die Lage?

Die Prei­se haben sich immens erhöht. Das ist schlecht für die Bevöl­ke­rung und ver­un­si­chert die Leu­te. Und das betrifft auch ganz kon­kret die Hil­fen durch uns Kapu­zi­ner, etwa bei den Bau­pro­jek­ten. Hier sind die Prei­se um 50 Pro­zent gestie­gen, was bedeu­tet, dass wir in Zukunft weni­ger Men­schen hel­fen kön­nen, selbst wenn die gute Unter­stüt­zung aus Deutsch­land und Öster­reich sta­bil bleibt.

Sie sind Kapu­zi­ner und Pries­ter. Wie hän­gen leib­li­ches und see­li­sches Wohl zusammen?

Das ist fast immer sehr eng mit­ein­an­der ver­bun­den. Wenn es Leu­ten wirt­schaft­lich und exis­ten­ti­ell schlecht geht, dann lei­det auch die See­le. Armut ist ein Übel, eine Not­si­tua­ti­on, die Men­schen erlei­den. Das macht auch etwas mit der See­le, mit dem spi­ri­tu­el­len und dem gemein­schaft­li­chen Leben der Leu­te. Des­we­gen ist für uns Kapu­zi­ner hier vor Ort klar: Wir kön­nen nicht Pas­to­ral betrei­ben ohne die sozia­le Lage eben­so mit in den Blick zu neh­men. From­me Wor­te allei­ne errei­chen die Leu­te nicht, es muss auch ganz kon­kre­te Ver­bes­se­run­gen im Leben der Leu­te geben. Wir sind als Kir­che oft der ein­zi­ge Hoff­nungs­trä­ger der Men­schen, da sich der Staat aus die­ser Regi­on kom­plett zurück­ge­zo­gen hat.

Wir haben über die Armut in Alba­ni­en gespro­chen, die Sie vor Ort bekämp­fen. Auf der ande­ren Sei­te haben Sie als Ordens­mann „Armut“ als Gelüb­de geschwo­ren. Ist das ein Widerspruch?

Für mich sind das zwei ver­schie­de­ne Paar Schu­he. Armut, die aus einer Not­la­ge erwächst und exis­ten­zi­ell ist, das ist etwas völ­lig ande­res als das, was wir Kapu­zi­ner mit unse­ren Gelüb­den zu leben ver­su­chen. Die­se Armut hier vor Ort ist ein Übel. Eine durch ein Gelüb­de frei­wil­lig gewähl­te Armut ist eine ande­re Sache, die zunächst ein­mal mit Hin­ga­be zu tun hat und mit einer frei­wil­li­gen Ent­schei­dung. Ich ent­schei­de mich, ein­fach zu leben. Ich ent­schei­de mich dafür, dass ich nicht einem Immer-Mehr, Immer-Bes­ser und Immer-Schnel­ler nach­lau­fe. Mein Gelüb­de der Armut hat auch mit einer Erfah­rung von Reich­tum zu tun, näm­lich einem Gott, der mich reicht macht und mich beschenkt. Gott gibt mir Zuver­sicht und Halt. Das ein­fa­che Leben ist mei­ne Ant­wort auf die­se Erfahrung.

Ich ent­schei­de mich, ein­fach zu leben. Ich ent­schei­de mich dafür, dass ich nicht einem Immer-Mehr, Immer-Bes­ser und Immer-Schnel­ler nachlaufe.

Leben die Kapu­zi­ner arm?

Ja, wir leben ein­fach. Den­noch haben wir alles, was wir benö­ti­gen für ein gutes Leben, wir sind nicht exis­ten­zi­ell arm. Mit die­ser kur­zen Ant­wort auf Ihre Fra­ge ist es aber nicht getan, denn die Fra­ge ist wirk­lich wich­tig. Wir müs­sen hier immer wie­der dran­blei­ben, sie ist ent­schei­dend für unser Leben als Kapuziner.

Sie wur­de im Lau­fe der Geschich­te der fran­zis­ka­ni­schen Orden immer wie­der diskutiert. 

Genau­so ist es. Schon immer grif­fen nach einem Auf­bruch Eta­blie­rungs­ten­den­zen um sich. Die Fra­ge der Armut hat den Fran­zis­ka­ner­or­den geprägt und gespal­ten. Mei­ne Mei­nung ist, dass wir uns als Kapu­zi­ner in Euro­pa hier immer wie­der neu auf den Weg machen müs­sen. Das ist nicht zual­ler­erst eine Fra­ge des Ver­zich­tes, son­dern der Lebens­ein­stel­lung. Wir müs­sen uns fra­gen: Haben wir eine Ent­schei­dung getrof­fen für Men­schen, die arm sind? Unse­re Klös­ter dür­fen kei­ne gut situ­ier­ten Bur­gen sein.

War­um wol­len Sie als Kapu­zi­ner über­haupt arm sein und ein­fach leben? 

Unser Ordens­va­ter, der hei­li­ge Fran­zis­kus, woll­te arm sein, weil er den Reich­tum Got­tes erfah­ren hat. Weil er in sei­nem Leben erlebt hat, dass mate­ri­el­ler Reich­tum und Geld nicht alles ist. Es war für ihn die Erfül­lung, Gott zu fin­den. Das geht nur in Frei­heit und Unab­hän­gig­keit. Ein ein­fa­ches Leben für mich als Kapu­zi­ner ist auch die Vor­aus­set­zung dafür, soli­da­risch und auf Augen­hö­he mit den Men­schen unter­wegs zu sein, die in pre­kä­ren und exis­ten­zi­el­len Not­si­tua­tio­nen leben müssen.

Wel­che Bibel­stel­le ist Ihnen im Zusam­men­hang mit der Armut beson­ders wichtig? 

Es gibt eine Bibel­stel­le aus dem Johan­nes­evan­ge­li­um (3,16), in der es heißt: „Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er sei­nen ein­zi­gen Sohn hin­gab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht ver­lo­ren geht, son­dern ewi­ges Leben hat.“ Das ist für mich ein Schlüs­sel unse­res Glau­bens. Jesus kam arm in die­se Welt, ein wich­ti­ges Zei­chen auch für unse­re Arbeit hier in Alba­ni­en. Sei­ne Armut ist natür­lich viel grö­ßer als das, was wir ver­su­chen zu leben, aber es ist ein leuch­ten­des Bei­spiel, dass so ein Leben gelin­gen kann. Als Not­la­ge ist Armut kein Ide­al, im Gegen­teil. Aber als eine spi­ri­tu­el­le Ant­wort auf die Mensch­wer­dung Got­tes in Jesus Chris­tus ist sie das.

Eine gerech­te Öko­no­mie ist nicht allein die Fra­ge wirt­schaft­li­cher Struk­tu­ren und Ergeb­nis­se, denn der Mensch ist ein ganz­heit­li­ches Wesen.

Papst Fran­zis­kus beschäf­tigt sich seit vie­len Jah­ren mit dem Wirt­schafts­sys­tem. Er beschreibt den Kapi­ta­lis­mus als uner­träg­lich, sagt, dass „die­se Wirt­schaft tötet“. Stimmt das, ist der Kapi­ta­lis­mus das Problem?

Ich glau­be schon, dass der Kapi­ta­lis­mus in einer glo­ba­li­sier­ten Welt vie­le Opfer hin­ter­lässt. Die­se Opfer sind die Schwa­chen, die Mar­gi­na­li­sier­ten, die kei­ne Stim­me oder kei­ne Res­sour­cen haben. Die Sche­re zwi­schen Arm und Reich geht immer wei­ter aus­ein­an­der. Für mich soll­te in die­ser Debat­te die Fra­ge im Mit­tel­punkt ste­hen: Was ist uns wich­tig, der Mensch oder die Gewinn­ma­xi­mie­rung? Wir müs­sen den Men­schen in den Fokus des Han­delns rücken, das wäre eine Öko­no­mie, die am Evan­ge­li­um aus­ge­rich­tet ist. Davon sind wir weit entfernt!

Sie leben in Alba­ni­en, einem Land, in dem vie­le Jah­re kein Kapi­ta­lis­mus, son­dern eine Art „Stein­zeit-Kom­mu­nis­mus“ gelebt wurde. 

Ja, des­we­gen muss ich schon auch hin­zu­fü­gen: Die­se Art des bru­ta­len Kom­mu­nis­mus, die es in Alba­ni­en gege­ben hat, hat die­se Gegen­sät­ze auch nicht über­brückt, im Gegen­teil. Sie hat den Men­schen den Glau­ben und die Reli­gio­si­tät genom­men. Eine gerech­te Öko­no­mie ist nicht allein die Fra­ge wirt­schaft­li­cher Struk­tu­ren und Ergeb­nis­se, denn der Mensch ist ein ganz­heit­li­ches Wesen. Zu ihm gehört sein Bedürf­nis nach Reli­gio­si­tät und die Suche nach Ant­wor­ten, nach einem Gott, der da ist, trös­tet und die Men­schen liebt.

Br. Andre­as, vie­len Dank für das Gespräch!

Das Inter­view führ­te Tobi­as Rauser

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